Autor Thema: Neubau des Radnetzes einer Spaltenkreuzspinne nach ihrer Häutung  (Gelesen 1551 mal)

Andreas Penselin

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Hallo,
da ich in meinen alten Thread nicht mehr hineinkomme, muss ich einen neuen aufmachen.
Mir stellt sich jetzt im Überblick über die vergangenen Tage folgende Entwicklung der Spaltenkreuzspinne und ihres Radnetzbaus dar:
1. Sie hatte zunächst ihr Netz diagonal in den Winkel zwischen Stahlträger und Holzgitter eingepasst. Dort war das Netz leicht zu befestigen und seine Lage sehr gut wettergeschützt.
2. Um das Radnetz weiter vergrößern zu können, verlagerte sie Teilbereiche parallel zum Holzgitter und formte damit eine Art Trichter-Radnetz. Aber auch mit diesem Trick blieb die weitere Ausdehnung des Netztes begrenzt.
3. Vielleicht nicht zufälligerweise in dieser Phase, in der ihr Leib in seiner Hülle und das Radnetz an seine schützende Umrandung stoßen, frisst sie nahezu komplett ihr Netz auf und häutet sich.
4. Nach zwei Ruhetagen ohne Netzbau, baut sie ein deutlich größeres Netz an einem ganz neuen Ort: auf der anderen Seite des Holzgitters, im rechten Winkel zu diesem und in den freien Raum hinein.
Ich habe mich immer gerfragt, wo genau sie den oder die Fäden gesponnen hat, um diese in den freien Raum hinausragende Seite des Radnetzes zu befestigen. In dieser Nacht habe ich die Lösung gefunden: Sie hat einen 90 cm langen Faden zu einem neben dem Holzgitter stehenden Wandelröschen hinüber gesponnen. Auf dem ersten Foto habe ich alle auch bei Tag fotografisch erfassbaren Fäden gelb markiert. Ich habe nur solche markiert, die auf dem Foto eindeutig als weiße Linie sichtbar waren. Man erkennt die Lage des Radnetzes. Der entscheidende Spannfaden verläuft von links oben nach rechts unten. Links oben hält er das Netz von oben. Rechts unten ist er an einem Blatt befestigt, das senkrecht ausgerichtet ist und von anderen, dicht benachbarten Blättern gehalten wird. Von dort aus wird das Netz seitlich in den freien Raum gespannt und gehalten.
Extrem wichtig ist aber noch der Faden, der ganz offensichtlich unten am Netz als Rahmenfaden beginnt, dann aber ebenfalls nach rechts in den freien Raum hinaus verläuft, bis er auf den oberen Spannfaden stößt. Dieser Faden hält und spannt nicht nur das Radnetz selbst nach unten. Er ist außerdem unter Spannung an dem oberen Spannfaden befestigt, so dass er diesen – wie an dem leichten Knick, den er erzeugt, deutlich zu erkennen ist – zusätzlich spannt und stabilisiert. Weiter oben gibt es noch einen weiteren den Spannfaden selbst unter Spannung setzenden Faden, der eher von oben nach unten verläuft.
Dieses Spannsystem funktioniert also ganz offensichtlich nach dem Grundprinzip von Spannung und Gegenspannung.
Nun könnte man sich fragen, ob nicht dieser obere Spannfaden bei Stürmen und Gewittern wie in den letzten Tagen allzu leicht vom Blatt einfach abreißen kann. Deswegen habe ich diese Befestigung am Blatt – siehe das zweite Foto – nochmals im Details fotografiert.
Ich finde dieses filigrane und zugleich stabile Fadengeflecht sensationell. Jeder einzelne Faden wirkt scharf wie ein Messer und stabil wie Stahldraht.
Nachdem dies alles so perfekt in genau diese Umgebung eingepasst ist, bin ich mir sicher, dass die Spinne dies bereits vor ihrer Häutung erkundet hat. Mich fasziniert, dass diese Tiere offensichtlich auch ohne reflexives Selbstbewusstsein oder logisches Denken oder mathematische Berechnungen, einen genialen Plan für die Bildung eines neuen Lebensorts entwickeln können. Und sie brauchen dafür keine sogenannten höheren Sinne (Sehen und Hören) sondern die basalen Sinne: Gleichgewicht, Kinästhetik und taktiles Empfinden. Damit orientieren sie sich perfekt im Raum. Und nicht zuletzt: Das Neue entsteht im Durchstehen einer körperlichen Krise.
Viele Grüße,
Andreas

Andreas Penselin

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Und noch nachgeliefert das Foto des ersten Radnetzbaus nach der Häutung....

Jutta Asamoah

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Hallo Andreas,

faszinierend, wie du die Details herausarbeitest.
Ich hoffe, dass der ursprüngliche Beitrag bald wieder erreichbar ist.
Habe gestern Baldachinspinnennetze bestaunt, die Sturmböen und Platzregen trotzten.

LG  Jutta
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Andreas Penselin

  • Beiträge: 16
Hallo Jutta,
es freut mich sehr, dass dich interessiert, worüber ich jeden Tag hier beobachtend staune. Vielen Dank für deine Rückmeldung!
Es gibt inzwischen wieder Neues zu berichten. Ich habe aus 5900 Fotos (alle 2 sec) in der Nacht auf Sonntag einen neuen Film zusammengestellt. Mir ist anhand vergrößerter Sequenzen aus einem Vorgänger-Films klar geworden, warum die Spaltenkreuzspinne immer Pausen beim Abbau des Netzes einlegt und scheinbar regungslos im Netz oder an einer Strebe sitzt. Wenn man mehrere Fotos vergrößert betrachtet, erkennt man trotz der Unschärfe der Fotos, dass sich ihre Pedipalpen bewegen. Mit anderen Worten: Sie frisst oder bereitet die Beute zum Fressen vor.
Alles, was sich tagsüber in ihrem Netz verfängt – und das ist eine ganze Menge – löst keinerlei Reaktion aus. Sie lässt alles zappeln und bleibt unbeeindruckt in ihrem Schutzwinkel sitzen, obwohl sie das über die Signalfäden zweifelsohne spürt. Selbst wenn sich die eine oder andere Beute wieder befreien kann, macht dies nichts – bis zum Abend ist der Tisch „gedeckt“.
Und das bedeutet: Sie kombiniert eigentlich abends in der ersten Phase ihrer Netzarbeiten sogar drei Aktionen. Sie frisst einen Bereich des Netzes auf, zieht dabei manchmal einen neuen Radialfaden ein oder erneuert/ stabilisiert den Rahmen und sammelt zugleich die Beute dieser Region ein.
Das alles nimmt erhebliche Zeit in Anspruch. Die 5900 Fotos – und sie erfassen noch nicht einmal wirklich den Anfang der Plünderung des alten Netzes – erstrecken sich über einen Zeitraum von 2,5 Stunden. Es ist ja oft zu lesen, Kreuzspinnen bauten ihr Netz in einer Stunde. Das habe ich noch nie beobachten können. Das trifft allenfalls für die letzte Phase, das Anlegen der Hilfs- und Fangspirale, zu. Aber die Netzarbeiten insgesamt dauern mit den Fresspausen erheblich länger. Allerdings kann dies alles schon bei Araneus diadematus anders sein, da diese ja ihre Beute sofort tagsüber einspinnen und abtransportieren. Aber auch bei denen habe ich nie Bauzeiten von lediglich einer Stunde gesehen. Auch sie legen Pausen ein. Früher dachte ich immer, um das gefressene Netz zu verwerten oder die Abgabe eines anderen Fadenmaterials innerlich vorzubereiten? Kennt jemand Literatur dazu?
In der Nacht auf heute (Montag, 23.05.22) hat die Spaltenkreuzspinne ein nochmals vergrößertes Netz angelegt. Den Rahmen hat sie offensichtlich belassen oder ausgebessert. Aber sie hat die Fangspirale vor allem seitlich noch bis ganz dicht an den Rahmen hin ausgeweitet. Im Radius von der Nabe nach unten zähle ich etwa 35 Fadenlinien. Die Holzstreben liegend vertikal 18 cm auseinander. Das Netz geht über etwa 2,5 Strebenquadrate. Das ergibt einen Durchmesser von etwa 45 cm. Es war extrem schwierig, dieses Netz überhaupt zu fotografieren. Mit bloßem Auge sind die Fäden selbst bei Beleuchtung des Netzes fast nicht zu erkennen – und das bei der Größe.
Mich faszinieren diese sinnvollen Widersprüche. Das Netz ist groß und dicht, aber nahezu unsichtbar. Die Fäden strahlen eine Regelmäßigkeit und Harmonie aus, obwohl nicht ein Quadrat irgendeinem anderen wirklich gleicht. Das Netz ist extrem stabil, aber zugleich flexibel (es stellt sich den Einwirkungen von außen, dem Wind und Regen, nicht starr entgegen, sondern leitet alle Druckwellen aus, so dass sie keine Schaden anrichten)…. Auch in der Hinsicht kann ich Jutta nur zustimmen: Was diese Netze aushalten ist unglaublich. In Paderborn sind offensichtlich ganze Leitplanken wie Papierschnipsel durch die Luft gewirbelt. Die Spinnennetze überstehen sicherlich keinen Tornado, aber die Stürme in Nürnberg ohne Probleme. Als ich von meinem Balkon geflüchtet bin, kam die Spinne gerade aus ihren Schutzwinkel und fing gerade an ihr Netz zu untersuchen….
Und noch etwas beschäftigt mich sehr. Das Netz ist in noch anderer Hinsicht kein starres, mechanisches Gerüst, sondern durch die Spinne bewegt in die Bewegungen der Umgebung/ der Natur nahtlos eingebunden. Der Wichtigste Befestigungsfaden ist über eine Distanz von 90 cm an einem Pflanzenblatt befestigt. Und unten ist der wichtigste Verankerungspunkt ein Stil der Clematis. Das sind wachsende, also sich ebenfalls bewegende Pflanzen. Das alles ist gemeinsam permanent in Bewegung, wirkt auf alles andere und erhält von allem Wirkung. Das ist wie eine gegliederte Einheit, in der wirklich einzelne Elemente nicht auszumachen sind. Es gibt keine wirklichen Grenzen, sondern eher fließende Übergänge. Ein Zentrum all dessen scheinen mir die Beine der Spinne zu sein. Sie sind gleichzeitig sowohl auf die Umwelt einwirkende Greiforgane, als auch selbst die kleinsten Bewegun¬gen im Netz räumlich erspürende Tastorgane.
Hier folgen noch zwei Links zu den Videos:

https://www.youtube.com/watch?v=3zjnCAze_qg

https://youtu.be/9WBururzNSc

LG,
Andreas