Autor Thema: Halleluja  (Gelesen 2456 mal)

Michael Schäfer

  • Aktive Mitarbeiter
  • *****
  • Beiträge: 2452
Halleluja
« am: 2019-01-20 19:18:38 »
Meine neusten Foto-Projekte zeigen Springspinnen aus Fuerteventura und Kreta.

Tobias Bauer

  • Administrator
  • *****
  • Beiträge: 2151
Re: Halleluja
« Antwort #1 am: 2019-01-20 22:30:15 »
Jap und Jap. Ich sehe da ja sowieso eine große Bedrohung drin, so ganz ohne sind aber auch einige der Autoren nicht, die darin gewisse Dinge von Proszynski einfordern, die sie selbst nicht immer erfüllen. Gerade in Richtung Peer-review usw. könnte sich auch das eine oder andere Manuskript von Zootaxa oder Arthropoda Selecta mal an die eigene Nase fassen. Man muss sich dazu nur mal Rainer's und meinen Beitrag von 2015 zum Thema Larinioides angucken.

Tobias

Martin Lemke

  • Administrator
  • *****
  • Beiträge: 15531
Re: Halleluja
« Antwort #2 am: 2019-01-21 10:16:51 »
Ich habe gerade den Kopf mit anderem voll. Kann mal jemand kurz auf Deutsch zusammenfassen, worum es geht?

Martin

Profil bei Researchgate.net – Spinnen-News aus SH

DAS waren noch Zeiten: Norwegen 2011.

Rainer Breitling

  • Aktive Mitarbeiter
  • *****
  • Beiträge: 2000
Re: Halleluja
« Antwort #3 am: 2019-01-21 10:48:03 »
Die Autoren diesen Artikels, nahezu das gesamte WSC-Team, reagieren auf Jerzy Prószyńskis hochumstrittene Arbeiten zur Springspinnentaxonomie aus den letzten Jahren, und versuchen, die Position des WSC gegenüber seinen Ansichten und Vorgehensweisen klar zu machen.

Dass die Zusammenstellung der Autorenliste die Kritik an Prószyński dann doch recht scheinheilig aussehen lässt, ist sicher das kleinste der Probleme dieser Arbeit. Viel schlimmer ist, dass die Autoren ihre eigenen Ziele gradezu tragisch verfehlen und meinen, sorgfältige Argumente dadurch ersetzen zu können, dass sie ihre persönlichen Kränkungen in Fettbuchstaben in die Welt jammern.

Ich habe nichts gegen eine gepflegte wissenschaftliche Polemik; in den richtigen Händen kann so etwas durchaus erbaulich, unterhaltsam und belehrend sein, und eine gründliche Auseinandersetzung mit der verfehlten Methodik in Prószyńskis jüngsten Werken wäre sicher ein lohnendes und einfaches Ziel. Man hätte meinen sollen, wenn nahezu die gesamte Mitgliedschaft der drei Vorstandsgremien des World Spider Catalog sich zusammensetzt, dann wären sie in der Lage, ein überzeugendes Plädoyer für höhere Standards in der Arachnologie zu formulieren und gleichzeitig die Arbeitsweise des Katalogs auf eine objektivere Basis zu heben. Stattdessen präsentieren sie hysterische Wichtigtuerei. Stillos, dilettantisch, unreflektiert.

Was wollen die Autoren denn erreichen? Im letzten Satz schreiben sie: „we will reserve the right not to implement all of the suggested changes for the structure of the Catalog to promote taxonomic stability in the Salticidae.“ Wer hätte ihnen dieses Recht denn jemals streitig gemacht, ausser den Autoren, die sich von solcher Herausgeberwillkür benachteiligt sehen? Der Katalog kann und soll doch wohl nicht als „arachnologische Sittenpolizei“ aktiv werden, die den Wert taxonomischer Arbeiten beurteilt und Missetäter durch „non-implementation“ bestraft. Genau dieser Eindruck wird hier aber erweckt, durch Form und Inhalt. Wer sich nicht an die Regeln hält, muss damit rechnen vom Scherbengericht des WSC verstossen und öffentlich vernichtet zu werden.

Dabei gibt es durchaus vernünftige Gründe, im WSC nicht jedem nomenklatorischen Vorschlag sofort und unbesehen zu folgen, auch ganz ohne Ansehen der Person und ohne damit verbundenes Werturteil. Wissenschaftliche Namen haben zwei Funktionen, als eindeutige und allgemein akzeptierte Bezeichnungen der Taxa und als hierarchische Abbildung eines zoologischen Systems, also einer persönlichen wissenschaftlichen Hypothese. Diese zwei Aufgaben sind selten vollständig kompatibel. Ein Katalog wie der WSC muss naturgemäss die Stabilität betonen; das bedeutet aber auch, dass er nicht jede neue wissenschaftliche Hypothese in seinen Strukturen abbilden muss – und schon gar nicht sollte er gezwungen sein, in einer wissenschaftlichen Kontroverse Partei zu ergreifen. Dokumentation ist obligatorisch, Implementation darf vorsichtig und zurückhaltend geschehen.

Warum gelingt es den WSC-Autoren hier nicht, diesen so offensichtlichen Punkt deutlich zu machen? Warum verrennen sie sich stattdessen in eine persönliche Attacke? Ich fürchte, es handelt sich hier um ein in der arachnologischen Gemeinschaft weitverbreitetes (und höchst bedauerliches) Missverständnis der Aufgaben und Probleme der zoologischen Nomenklatur und des International Code of Zoological Nomenclature. Bereits im ersten Absatz wird das klar, wenn die Autoren schreiben: „The main goal of the Code is ‚to promote stability and universality in the scientific names of animals and to ensure that the name of each taxon is unique and distinct‘. ” Das ist zwar korrekt, doch darf dabei nicht vergessen werden, dass das erste der grundlegenden Prinzipien des ICZN sagt: „(1) The Code refrains from infringing upon taxonomic judgment, which must not be made subject to regulation or restraint.“ Wer das Ziel der Stabilität exklusiv betont, ohne das Prinzip der taxonomischen Freiheit zu berücksichtigen, der tut der wissenschaftlichen Arbeit in der Taxonomie keinen Gefallen.

Ein Verweis auf den Code darf niemals verwendet werden, eine wissenschaftliche Debatte abzuwürgen oder gar die Formulierung alternativer Hypothesen zu unterdrücken. Die alarmistische Warnung vor „confusion and chaos in future salticid systematics“ mag die emotionale Reaktion der Autoren korrekt wiedergeben, ist aber gleichzeitig eine Beleidigung der arachnologischen Gemeinschaft, zumal wenn diese Sorge damit begründet wird, dass Prószyński in diesem Gebiet ein „gewaltiges Ansehen“ geniesse. Sind denn die Spinnenforscher zu naiv und unbedarft, sich ein eigenes Urteil zu bilden? Gibt es wirklich Arachnologen, die Prószyńskis radikale Ablehnung der modernen taxonomischen Methoden gutheissen und seine Weigerung, seine Entscheidungen nachvollziehbar zu begründen, unterstützen? Wohl kaum. Aber gerade deshalb sind seine jüngsten Arbeiten keine Gefahr für die wissenschaftliche Taxonomie, genauso wenig wie Roberts ähnlich schwach begründete radikalen Umordnungen in „Spider Families of the World“.

In ihrem Eifer, Prószyński ein für alle Mal zu erledigen, übersehen die Autoren, dass sie durch ihre schwachen Argumente ihre eigene Autorität untergraben. Wer bereits auf ihrer Seite war, sieht über die argumentativen Schwächen sicher gerne hinweg, aber wer sich Unterstützung bei der Entscheidungsfindung erhofft hatte (und das sollte die eigentliche Zielgruppe eines solchen Artikels sein), der kommt leider zu kurz. Ein paar Beispiele, aus den 6 Kritikpunkten der Autoren:

(1)   Disregard of ICZN rules. – Gleich bei ihrem ersten Punkt sind die Autoren besonders bösartig in ihrem kreativen Missverstehen von Prószyńskis Argumenten. Wenn er schreibt, dass langatmige Textbeschreibungen ohne informative Abbildungen bestenfalls nutzlos und schlimmstenfalls irreführend sind, dann sagt er nur, was jeder Spinnentaxonom eigentlich wissen sollte. Wer schon einmal versucht hat, die von Simon, Thorell oder Strand beschriebenen Arten anhand der seitenlangen bilderfreien Texte zu identifizieren, weiss, worum es Prószyński hier geht. Der gezwungene Versuch, Abbildungen in Wörter zu übersetzen, kann ohne Übertreibung als Zeitverschwendung beschrieben werden, und daraus einen Verstoss gegen die ICZN-Regeln abzuleiten, ist grotesk. Ein Verweis auf eine diagnostische Abbildung erfüllt die Anforderungen von Artikel 13.1.1 vollkommen.

(2)   Disregard of the need to explain evidence. – Das ist sicher der grösste Schwachpunkt in Prószyńskis Vorgehensweise: er erklärt nicht, worauf seine taxonomischen Entscheidungen beruhen. Das macht es unmöglich, mit ihm in eine wissenschaftliche Diskussion zu treten; eine äusserst frustrierende Erfahrung für jeden Wissenschaftler aus Leidenschaft. Dass Prószyński hierin nicht alleine ist, verringert das Problem nicht, macht einen solchen persönlichen Angriff aber besonders unfair. 

(3)   Descriptive taxonomy vs systematics (an old story). – Hier verweisen die Autoren auf die Debatte zwischen Ernst Mayr und Willi Hennig in den frühen siebziger Jahren. Es adelt Prószyński zwar übermässig, wenn er mit Mayr, einem der Gründerväter der Modernen Synthese der Evolutionstheorie, auf eine Stufe gestellt wird. Aber die Tatsache, dass diese Debatte damals mit grösstem Eifer geführt wurde und noch heute in den Lehrbüchern behandelt wird, beweist einmal mehr, wie wichtig es ist, auch Ansichten zu diskutieren, mit denen man es fundamental uneins ist. Die Aussage „There is only a single objective base for a classification in systematics, and this is the unique process of phylogeny“ ist eine subjektive Entscheidung der Autoren, keine wissenschaftliche Tatsache. Jorge Luis Borges‘ Einteilung des Tierreichs in „(a) pertenecientes al emperador, (b) embalsamados, (c) amaestrados, (d) lechones, (e) sirenas, etc.“ ist nicht weniger objektiv, aber leider völlig unpraktisch. Jeder zoologische Bestimmungsschlüssel ist dagegen eine „objektive Klassifizierung“, und nur in den seltensten Fällen folgt er einer phylogenetischen Hypothese; er ist blosses Abbild einer „pragmatic classification“, ganz im Sinne Prószyńskis. Das macht Bestimmungsschlüssel nicht weniger wertvoll oder gar subjektiv.

(4)   Disregard of modern scientific methods. – Dass Prószyński molekulargenetische Methoden rundweg ablehnt, hat er mit einem grossen Teil der Spinnentaxonomen seiner Generation gemeinsam. Seine Ablehnung von taxonomischen Routinemessungen als unnötigen Ballast und Zeitverschwendung ist im Kontext der Springspinnensystematik ebenfalls leicht nachzuvollziehen. Es sieht dann auch ganz so aus, als könnten die Autoren kein einziges Salticiden-Beispiel liefern, bei dem die standardmässig abgelieferten Messungen der Körperproportionen zu hilfreichen neuen Einsichten geführt haben. Das bedeutet natürlich nicht, dass gezielte morphometrische Studien im grossen Massstab nicht hilfreich sein könnten – aber das sagt Prószyński auch nirgends. Auch hier scheinen die Autoren ihn wieder sehr kreativ misszuverstehen.

(5)   Suprageneric names ending with -INES. – In seinem „pragmatischen“ Ansatz führt Prószyński eine informelle Privatnomenklatur für Gattungsgruppen ein, mit denen er sich ganz bewusst und ausdrücklich ausserhalb der ICZN-Regeln stellt. Das ist sein gutes Recht, und solche informellen Namen (Artengruppen statt Untergattungen oder auch Gruppierungen wie „RTA clade“ oder „canoe tapetum clade“) sind in der Arachnologie weitverbreitet und allgemein akzeptiert. Was die WSC-Autoren besonders aufzuregen scheint, ist die Tatsache, dass Prószyńskis Namen in ihrer Form (standardisierte Endung auf -INES und Angabe von Autor und Jahreszahl) den offiziellen Unterfamiliennamen zu sehr ähneln. Er unterscheidet sie zwar durch konsequente Schreibung in Versalien, aber ein flüchtiger und naiver Leser könnte seine Intentionen eventuell missverstehen. Warum dadurch die Spinnensystematik ins Chaos gestürzt werden könnte, ist aber nicht ganz klar: Spinnentaxonomen sind doch nicht allesamt minderbemittelte Amateure, denen die Regeln der Nomenklatur völlig fremd sind. Zumal Prószyńskis pragmatische Gruppierungen ja ausdrücklich keinen Versuch machen, phylogenetische Zusammenhänge abzubilden, und damit für einen modernen Spinnensystematiker sowieso irrelevant sein sollten.

(6)   Scientific malpractice. – Darunter verstehen die Autoren offensichtlich die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Arbeiten, die ihrem eigenen Methodenverständnis entgegenstehen. Ich würde behaupten, dass gerade dieser Versuch, missliebige Autoren zum Schweigen zu bringen, ein wissenschaftliches Fehlverhalten darstellt: Aufklärung, Gegenargumente, alternative Hypothesen, ständige Arbeit an den eigenen Verfahrensweisen und Hinterfragen der eigenen Vorurteile und Annahmen – damit setzt man ein gutes Vorbild für die nächste Generation, nicht dadurch, dass man versucht, einem 84-Jährigen den Arachnologenführerschein zu entziehen.
 
Beste Grüsse,
Rainer

Tobias Bauer

  • Administrator
  • *****
  • Beiträge: 2151
Re: Halleluja
« Antwort #4 am: 2019-01-21 15:34:39 »
Ich stimme dir in Teilen zu, sehe einiges aber nicht so, zudem fordert das paper geradezu eine Diskussion und eigentlich auch eine Antwort. Mich stört am meisten, und das hatte ich eigentlich erwartet, dass die Probleme komplett anhand von praktischen Beispielen erläutert werden.


(1)   Disregard of ICZN rules. – Gleich bei ihrem ersten Punkt sind die Autoren besonders bösartig in ihrem kreativen Missverstehen von Prószyńskis Argumenten. Wenn er schreibt, dass langatmige Textbeschreibungen ohne informative Abbildungen bestenfalls nutzlos und schlimmstenfalls irreführend sind, dann sagt er nur, was jeder Spinnentaxonom eigentlich wissen sollte. Wer schon einmal versucht hat, die von Simon, Thorell oder Strand beschriebenen Arten anhand der seitenlangen bilderfreien Texte zu identifizieren, weiss, worum es Prószyński hier geht. Der gezwungene Versuch, Abbildungen in Wörter zu übersetzen, kann ohne Übertreibung als Zeitverschwendung beschrieben werden, und daraus einen Verstoss gegen die ICZN-Regeln abzuleiten, ist grotesk. Ein Verweis auf eine diagnostische Abbildung erfüllt die Anforderungen von Artikel 13.1.1 vollkommen.

Ich finde diese (deine) Aussage dazu ebenfalls etwas polemisch. Hier wird Prosz. Aussage auf die schlimmsten Fälle in der Taxonomie gemünzt, um das Argument des WSC-Teams zu schwächen und Prosz. unschuldiger aussehen zu lassen, als er tatsächlich ist. Für die Bestimmung von Spinnenarten, insbesondere von Weibchen, ist z.B. das Verständnis der Vulvenmechanik/die Position der Spermatheken usw. oftmals ausschlaggebend, mitunter auch die Position des Embolus usw.. Ich brauche dafür oftmals die Hilfe einer guten Beschreibung (nicht der Diagnose), da ich das nicht direkt von einer Zeichnung oder auch von mehreren Vergleichszeichnungen oder gar Fotos aus begreife. Prosz. sagt aber ganz klar:

"translation of appearance of characters into words is too imprecise and often misleading"

und.

"Experienced arachnologists recognize species by memorizing habitus appearances of particular species, using description only for checking presence of some useful characters"

Das heißt für mich, Beschreibungen (und Erklärungen!) an sich sind nutzlos, und sollten, sieht man von einem Hinweis auf "useful" characters ab, nicht genutzt werden, sondern fast alles sollte nur bebildert sein. Wer legt aber dann fest, was "useful" ist? Wir kennen von Schmidt, wie es ausgehen kann, wenn ein Autor meint, genau wissen zu müssen, was eine gute Artbeschreibung (und Abgrenzung) braucht. Daher hat das Autorenteam hier recht, das deutlich zu tadeln, auch wenn es sich nicht unbedingt um einen ICZN-Verstoß handelt.

Schaut man sich das in der richtigen Praxis mal an, so nennt er für Evacina besar u.a. folgende Merkmale in der Diagnose:

details of special significance are arising point of embolus at the latero-posterior point of tegular rim and fine details of slightly waving tibial apophysis


Ich habe versucht das auf dem gezeigten Bild in der Arbeit nachzuvollziehen, mir fällt das aber sehr schwer. Vielleicht bin aber auch einfach kein "experienced arachnologist", und an die richtet sich ja wohl seine Arbeit, nicht an Leute, die unbekannte Spinnen bestimmen wollen (für mich der zweitgrößte Schwachpunkt in seiner Arbeit).
Zitat

(2)   Disregard of the need to explain evidence. – Das ist sicher der grösste Schwachpunkt in Prószyńskis Vorgehensweise: er erklärt nicht, worauf seine taxonomischen Entscheidungen beruhen. Das macht es unmöglich, mit ihm in eine wissenschaftliche Diskussion zu treten; eine äusserst frustrierende Erfahrung für jeden Wissenschaftler aus Leidenschaft. Dass Prószyński hierin nicht alleine ist, verringert das Problem nicht, macht einen solchen persönlichen Angriff aber besonders unfair. 

Ja und Nein. Natürlich ist das Autorenteam nicht unschuldig, aber Prosz. verweigert sich auch einfach dem Dialog, und spricht z.B. Maddison's molekulargenetischer Einteilung jeglichen praktischen Nutzen an sich ab, ohne Einzelfälle zu prüfen. Seine Vorgehensweise entspricht dem eines Salticiden-Diktators, per Handzeichen eine vermeintlich praktische Einteilung (und das ist sie ja nicht mal! Versuche, aus seiner Einteilung mal einen sinnvollen Bestimmungsschlüssel zu erstellen) zu zementieren, ohne auch nur den geringsten Beweis für deren direkten Nutzen (nicht deren wissenschaftliche Korrekheit!) zu liefern. Das ist aktuell einmalig in der Araneologie.

Zitat

(3)   Descriptive taxonomy vs systematics (an old story). – Hier verweisen die Autoren auf die Debatte zwischen Ernst Mayr und Willi Hennig in den frühen siebziger Jahren. Es adelt Prószyński zwar übermässig, wenn er mit Mayr, einem der Gründerväter der Modernen Synthese der Evolutionstheorie, auf eine Stufe gestellt wird. Aber die Tatsache, dass diese Debatte damals mit grösstem Eifer geführt wurde und noch heute in den Lehrbüchern behandelt wird, beweist einmal mehr, wie wichtig es ist, auch Ansichten zu diskutieren, mit denen man es fundamental uneins ist. Die Aussage „There is only a single objective base for a classification in systematics, and this is the unique process of phylogeny“ ist eine subjektive Entscheidung der Autoren, keine wissenschaftliche Tatsache. Jorge Luis Borges‘ Einteilung des Tierreichs in „(a) pertenecientes al emperador, (b) embalsamados, (c) amaestrados, (d) lechones, (e) sirenas, etc.“ ist nicht weniger objektiv, aber leider völlig unpraktisch. Jeder zoologische Bestimmungsschlüssel ist dagegen eine „objektive Klassifizierung“, und nur in den seltensten Fällen folgt er einer phylogenetischen Hypothese; er ist blosses Abbild einer „pragmatic classification“, ganz im Sinne Prószyńskis. Das macht Bestimmungsschlüssel nicht weniger wertvoll oder gar subjektiv.

Soweit ich verstehe, will die biologische Systematik Tierarten (die Art muss dabei als Begriff unumstößlich sein) aufgrund ihres natürlichen Verwandschaftsgrades einteilen, und nicht aufgrund von mehr oder weniger subjektiven (oder sehr lustigen) Merkmalen. Würde das Wort "Systematics" im Satz der Autoren fehlen, würde ich komplett zustimmen. Prosz. interessiert sich aber nicht für die natürliche Beziehung von Arten. Egal wie die Springspinnen verwandt sind, wenn sie subjektiv morphologisch ähnlich sind, kommen sie in eine Gruppe, weil es praktisch ist.

Prosz. versucht, in seinen Arbeiten keinen einfachen Bestimmungsschlüssel zu etablieren. Dagegen hätte sicherlich niemand was. Dann würde er auch komplett auf Gattungen und Artbeschreibungen verzichten. Er aber nimmt die Nomenklatur (und andere Arachnologen) in Geiselhaft, indem er schlicht den aktuellen Methoden in der Zoologie und den vorhandenen Wissenschaftlern die Fähigkeit (zum Konsens) abspricht, die Springspinnen sinnvoll zu klassifizieren, so dass sie "bestimmbar" sind. Er führt Gattungen und Arbeitsmethoden "provisorisch" ein, und überlässt anderen Autoren die Arbeit, diese wissenschaftlich zu belegen. Seine Begründung ist meist, dass er seit langer Zeit mit Salticiden arbeitet, und er wohl schon weiß, was richtig ist, und stellt dabei ganz klar die Nomenklatur vor die Phylogenie.

Zitat

(4)   Disregard of modern scientific methods. – Dass Prószyński molekulargenetische Methoden rundweg ablehnt, hat er mit einem grossen Teil der Spinnentaxonomen seiner Generation gemeinsam. Seine Ablehnung von taxonomischen Routinemessungen als unnötigen Ballast und Zeitverschwendung ist im Kontext der Springspinnensystematik ebenfalls leicht nachzuvollziehen. Es sieht dann auch ganz so aus, als könnten die Autoren kein einziges Salticiden-Beispiel liefern, bei dem die standardmässig abgelieferten Messungen der Körperproportionen zu hilfreichen neuen Einsichten geführt haben. Das bedeutet natürlich nicht, dass gezielte morphometrische Studien im grossen Massstab nicht hilfreich sein könnten – aber das sagt Prószyński auch nirgends. Auch hier scheinen die Autoren ihn wieder sehr kreativ misszuverstehen.

Prosz. schreibt ganz klar:

"Body proportions are not reconstructed from 30 measurements and several indices, but memorized by a single look at a photograph. Important parameter may be only total body length, but in majority of Salticidae it is pretty uniform, between 4 and 8 mm, rarely bigger or smaller, in addition size of body and its parts of a species may vary within broad limits, in some species even up to 50%."

Und gibt z.B. auch in der Beschreibung von Evacin besar keinerlei Maße an (auch nicht als Skala auf den Bildern!). Das ist extrem gefährlich, denn morphometrische Werte von Springspinnen können durchaus relevant sein, siehe z.B. S. zimmermanni und S. atricapillus. Und für die Hypothesenbildung ist eine genaue Vermessung von auch nur einigen Exemplaren durchaus interessant, weil sich bei bestimmten Körpermaßen auch bei kleinem n schon gewisse Tendenzen erkennen lassen (man denke an den Fall meiner Kugelspinnenart (ok, andere Familie, aber trotzdem) aus der Wilhelma).

Nun werden Körperlängen aber nicht nur von Taxonomen, sondern zunehmend auch von Ökologen in sogenannten Traitanalysen verwendet. Zudem werden Köperlängen, Prosomalängen usw. traditionell auch in anderen Bereichen verwendet, z.B. in morphometrischen Regressionsanalysen, wie dem bekannten Paper von Marshall & Gittlemann (1985) zum Verhältnis von Körperlänge und Gelegegröße bei Spinnen. Oftmals sind taxonomische/naturhistorische Bestimmungswerke hier die einzigen Bezugsquellen, die existieren. Auch wenn es für einen Springspinnentaxonomen aus seiner Sicht durchaus verständlich ist, Körpermaße als unnötig für die Bestimmung abzutun, raubt Prosz. mit dieser ungenauen Herangehensweise damit der Taxonomie einen Teil ihrer Daseinsberechtigung, da, sehen wir mal von der Bestimmung ab, die Grundidee einer taxonomischen Beschreibung, umfassend über eine Art zu informieren, verfehlt wird, wenn nur noch subjektiv wichtige Angaben gemacht werden. Aber klar: Kropf et al ziehen diesen Punkt falsch auf.

Tobias


Rainer Breitling

  • Aktive Mitarbeiter
  • *****
  • Beiträge: 2000
Re: Halleluja
« Antwort #5 am: 2019-01-21 17:55:24 »
Ich stimme dir in Teilen zu, sehe einiges aber nicht so, zudem fordert das paper geradezu eine Diskussion und eigentlich auch eine Antwort.
Ja, das sehe ich auch so. Mal schauen, ob sich das jemand zutraut, gegenüber so einer geballten Ladung an arachnologischen Koryphäen.

Zitat
Ich finde diese (deine) Aussage dazu ebenfalls etwas polemisch. Hier wird Prosz. Aussage auf die schlimmsten Fälle in der Taxonomie gemünzt, um das Argument des WSC-Teams zu schwächen und Prosz. unschuldiger aussehen zu lassen, als er tatsächlich ist. ... Daher hat das Autorenteam hier recht, das deutlich zu tadeln, auch wenn es sich nicht unbedingt um einen ICZN-Verstoß handelt.
Na klar bin ich hier polemisch. Aber das heisst doch nicht, dass ich Prosz.s Vorgehen gutheisse oder gar für vorbildlich halte. Es ist eine absolut unterirdische Leistung. Aber wenn man das kritisiert, dann bitte richtig, und wenn man behauptet, dass hier ein Regelverstoss vorliegt, dann muss man das auch belegen (das fordern die Autoren ja auch von Prosz. :) )

Zitat
Schaut man sich das in der richtigen Praxis mal an, so nennt er für Evacina besar u.a. folgende Merkmale in der Diagnose:

details of special significance are arising point of embolus at the latero-posterior point of tegular rim and fine details of slightly waving tibial apophysis

Aber der Text ist da. Schlecht und unbrauchbar, aber formal (und im Sinne des ICZN) kein Verstoss gegen die Regeln (und auch nicht Prosz.-spezifisch).

Zitat
Ja und Nein. Natürlich ist das Autorenteam nicht unschuldig, aber Prosz. verweigert sich auch einfach dem Dialog, und spricht z.B. Maddison's molekulargenetischer Einteilung jeglichen praktischen Nutzen an sich ab, ohne Einzelfälle zu prüfen. Seine Vorgehensweise entspricht dem eines Salticiden-Diktators, per Handzeichen eine vermeintlich praktische Einteilung (und das ist sie ja nicht mal! Versuche, aus seiner Einteilung mal einen sinnvollen Bestimmungsschlüssel zu erstellen) zu zementieren, ohne auch nur den geringsten Beweis für deren direkten Nutzen (nicht deren wissenschaftliche Korrekheit!) zu liefern. Das ist aktuell einmalig in der Araneologie.
Ganz richtig: er verweigert sich dem Dialog und steigt ganz bewusst aus dem wissenschaftlichen Diskurs aus. Bedauerlich, befremdlich, schwer nachzuvollziehen, aber sein gutes Recht. Wenn er nicht nach den Regeln spielen will, dann bleibt er halt draussen vor. Aber deswegen bricht in der Arachnologie doch nicht gleich Chaos aus.

Zitat
Soweit ich verstehe, will die biologische Systematik Tierarten (die Art muss dabei als Begriff unumstößlich sein) aufgrund ihres natürlichen Verwandschaftsgrades einteilen, und nicht aufgrund von mehr oder weniger subjektiven (oder sehr lustigen) Merkmalen. Würde das Wort "Systematics" im Satz der Autoren fehlen, würde ich komplett zustimmen. Prosz. interessiert sich aber nicht für die natürliche Beziehung von Arten. Egal wie die Springspinnen verwandt sind, wenn sie subjektiv morphologisch ähnlich sind, kommen sie in eine Gruppe, weil es praktisch ist.
Das ist ein weitverbreitetes Missverständnis. Das ist zwar das Selbstverständnis der modernen Systematik, aber natürliche Systeme sind nicht die einzig möglichen (siehe Borges). Auch hier stellt sich Prosz. wieder ausserhalb des wissenschaftlichen Diskurses, ganz offen und unbekümmert. Man muss seine Ansichten nicht teilen (und ich wäre überrascht, wenn sich auch nur ein einziger Arachnologe findet, der ihm in seinem Vorgehen zustimmt), aber vom WSC-Team erwarte ich Präzision in der Argumentation.
 
Zitat
Prosz. versucht, in seinen Arbeiten keinen einfachen Bestimmungsschlüssel zu etablieren. Dagegen hätte sicherlich niemand was. Dann würde er auch komplett auf Gattungen und Artbeschreibungen verzichten. Er aber nimmt die Nomenklatur (und andere Arachnologen) in Geiselhaft, indem er schlicht den aktuellen Methoden in der Zoologie und den vorhandenen Wissenschaftlern die Fähigkeit (zum Konsens) abspricht, die Springspinnen sinnvoll zu klassifizieren, so dass sie "bestimmbar" sind. Er führt Gattungen und Arbeitsmethoden "provisorisch" ein, und überlässt anderen Autoren die Arbeit, diese wissenschaftlich zu belegen. Seine Begründung ist meist, dass er seit langer Zeit mit Salticiden arbeitet, und er wohl schon weiß, was richtig ist, und stellt dabei ganz klar die Nomenklatur vor die Phylogenie.
Das ist alles ganz richtig. Aber warum die Aufregung? Die Artbeschreibungen sind ja nicht der umstrittene Teil der Arbeiten, und alles andere kann man ungestraft ignorieren, ohne dass Chaos ausbricht. Oder man lässt sich von seinen Vorschlägen inspirieren und provozieren. Auch das wäre sicher kein Grund für den Kollaps des arachnologischen Systems, das die Autoren zu befürchten scheinen.

Zitat
Prosz. schreibt ganz klar:

"Body proportions are not reconstructed from 30 measurements and several indices, but memorized by a single look at a photograph. Important parameter may be only total body length, but in majority of Salticidae it is pretty uniform, between 4 and 8 mm, rarely bigger or smaller, in addition size of body and its parts of a species may vary within broad limits, in some species even up to 50%."

Und gibt z.B. auch in der Beschreibung von Evacin besar keinerlei Maße an (auch nicht als Skala auf den Bildern!). Das ist extrem gefährlich, denn morphometrische Werte von Springspinnen können durchaus relevant sein, siehe z.B. S. zimmermanni und S. atricapillus. Und für die Hypothesenbildung ist eine genaue Vermessung von auch nur einigen Exemplaren durchaus interessant, weil sich bei bestimmten Körpermaßen auch bei kleinem n schon gewisse Tendenzen erkennen lassen (man denke an den Fall meiner Kugelspinnenart (ok, andere Familie, aber trotzdem) aus der Wilhelma).

Nun werden Körperlängen aber nicht nur von Taxonomen, sondern zunehmend auch von Ökologen in sogenannten Traitanalysen verwendet. Zudem werden Köperlängen, Prosomalängen usw. traditionell auch in anderen Bereichen verwendet, z.B. in morphometrischen Regressionsanalysen, wie dem bekannten Paper von Marshall & Gittlemann (1985) zum Verhältnis von Körperlänge und Gelegegröße bei Spinnen. Oftmals sind taxonomische/naturhistorische Bestimmungswerke hier die einzigen Bezugsquellen, die existieren. Auch wenn es für einen Springspinnentaxonomen aus seiner Sicht durchaus verständlich ist, Körpermaße als unnötig für die Bestimmung abzutun, raubt Prosz. mit dieser ungenauen Herangehensweise damit der Taxonomie einen Teil ihrer Daseinsberechtigung, da, sehen wir mal von der Bestimmung ab, die Grundidee einer taxonomischen Beschreibung, umfassend über eine Art zu informieren, verfehlt wird, wenn nur noch subjektiv wichtige Angaben gemacht werden. Aber klar: Kropf et al ziehen diesen Punkt falsch auf.
Alles völlig korrekt. Aber aus Prosz.s Sicht fällt hier die Kosten-Nutzen-Rechnung zu Ungunsten der Morphometrie aus. Vielleicht eine Überreaktion, aber er hat doch Recht: die Routinemessungen in den allermeisten Artbeschreibungen haben reine Alibifunktion und werden nie wieder verwendet. Für eine informative morphometrische Analyse sind grössere Materialreihen notwendig, die von den gleichen Forschern (möglichst einem einzigen) mit genau standardisierten Methoden vermessen werden. So zu tun, als wäre ausgerechnet das Fehlen dieser Daten in einer taxonomischen Arbeit ein grosser Verlust, scheint mir dann doch überzogen.

Beste Grüsse,
Rainer

Tobias Bauer

  • Administrator
  • *****
  • Beiträge: 2151
Re: Halleluja
« Antwort #6 am: 2019-01-22 11:49:38 »
Zitat
Das ist ein weitverbreitetes Missverständnis. Das ist zwar das Selbstverständnis der modernen Systematik, aber natürliche Systeme sind nicht die einzig möglichen (siehe Borges). Auch hier stellt sich Prosz. wieder ausserhalb des wissenschaftlichen Diskurses, ganz offen und unbekümmert. Man muss seine Ansichten nicht teilen (und ich wäre überrascht, wenn sich auch nur ein einziger Arachnologe findet, der ihm in seinem Vorgehen zustimmt), aber vom WSC-Team erwarte ich Präzision in der Argumentation.

Aber es wird ja explizit behauptet, dass es in der Systematik nur eine objektive Sicht gibt. Ok, das mag ein Logik-Problem an sich sein, dass ich gerade habe. Mann kann den Begriff "objektiv" nicht umdefinieren, wenn man Systematik in den Satz einfügt, oder an was hängts gerade bei mir?

Trotzdem... irgendwie ist der Vergleich mit anderen Systemen schwierig, wenn es um biologische Systematik geht. Nutzt man die Nomenklatur für nicht-natürliche Verhältnisse, arbeitet man gegen den Grundgedanken der Nomenklatur und Systematik, da letztere erstere bedingt.

Tobias


Rainer Breitling

  • Aktive Mitarbeiter
  • *****
  • Beiträge: 2000
Re: Halleluja
« Antwort #7 am: 2019-01-22 14:53:14 »
Vielleicht reden wir auch nur aneinander vorbei. Der Satz, über den wir diskutieren, lautet:
Zitat
There is only a single objective base for a classification in systematics, and this is the unique process of phylogeny

Wenn man Systematik per Definition als das Studium der evolutionären / phylogenetischen Beziehungen zwischen Organismen versteht, dann hast Du völlig recht -- und die Aussage ist nahezu tautologisch, etwa so "There is only a single objective base for a classification in the study of  the unique process of phylogeny, and this is the unique process of phylogeny". Meinem Argument lag dem Kontext angemessen ein breiteres Verständnis des Begriffs zugrunde, das nicht nur die moderne Systematik umfasst, sondern auch historische Ansätze, z.B. Linnés Systema Naturae, als legitime Aktivitäten innerhalb der biologischen Systematik versteht. Auch andere Klassifikations-Methoden (einschliesslich Teilen der Hardcore-Kladistik) sind übrigens durchaus agnostisch, was den phylogenetischen Prozess angeht, ohne dadurch weniger objektiv zu sein. Aber wahrscheinlich tue ich den Autoren an dieser Stelle Unrecht, so wie sie Prosz. Unrecht tun, wenn sie ihn dafür kritisieren, dass er sich nicht an ihre Regeln hält, auch wenn er ganz deutlich sagt, dass er gar nicht daran interessiert ist, ihr Spiel zu spielen (warum sollte es relevant sein, was die objektive Grundlage eines phylogenetischen Systems sein kann, wenn die "pragmatic classification" an phylogenetischen Beziehungen ausdrücklich kein Interesse hat (Prosz. behauptet übrigens nirgends, dass seine Klassifikation "should also shed light on the relationships of species and genera", auch wenn die WSC-Autoren ihm diese Absicht ganz kalt unterschieben).
Beste Grüsse,
Rainer